Die Schülerzeitung des Valentin-Heider-Gymnasiums

Und keiner kam zur Hilfe

Liebes Ferientagebuch, 

heute ist der 9. Juli 1982 und es geht endlich los. Wir haben Sommerferien, ich habe dich extra für die Zeit hier in Lindau bekommen und erzähle dir erstmal kurz, wer ich überhaupt bin. 

Ich heiße Kalinka und bin 14 Jahre alt. Aber nicht mehr lange, denn schon in ein paar Wochen, nämlich am 5. August habe ich Geburtstag und werde endlich 15. Dieses Jahr verbringen mein kleiner Bruder Nicholas  und ich die Sommerferien in Lindau bei Mama und ihrem neuen Mann Dieter. 

Ja genau, du hörst schon richtig. Mama und Papa haben sich getrennt und Mama hat wieder geheiratet. Dieter kennen wir schon lange. Wir haben uns schon oft zu Hause in Marokko getroffen. Ich glaube ja, Mama und Dieter haben sich schon damals verliebt. Er ist Arzt und hat auch schon zwei Kinder. Diana und Boris sind ungefähr so alt wie Nicholas und ich. 

Leider streiten sich Mama und Papa immer noch viel, vor allem darüber, wo Nicholas und ich in Zukunft wohnen werden. Das soll bis zum Herbst richtig besprochen sein. Nicholas und mir wäre es ja lieber, wir blieben bei Papa. Da haben wir viele Freunde und kennen uns gut aus.

Aber jetzt sind erstmal Ferien und eigentlich will ich dir jeden Tag etwas davon erzählen. Und damit fange ich jetzt an… 

Gestern Nachmittag sind Nicholas und ich mit dem Zug hier in Lindau angekommen und Mama hat uns am Bahnhof abgeholt. Weil es so heiß war, sind wir noch zur Gerberschanze gelaufen. Zum Glück haben wir die Badesachen im Rucksack mitgenommen und nicht irgendwo im Koffer. Und so haben wir den Rest des Nachmittags mit Mama an der Gerberschanze verbracht. 

Dieter hat uns dann dort, direkt nach der Arbeit in der Praxis, abgeholt. Nach einem langen Tag im Zug und beim Baden waren wir echt müde und sind früh ins Bett. 

Heute war es fast genauso heiß wie gestern und weil Dieter auch am Freitag arbeiten muss und Diana und Boris noch zur Schule müssen, haben wir den ganzen Vormittag Mama nur für uns gehabt. Das war richtig schön! Fast wie früher! 

Am Nachmittag waren dann alle zu Hause und wir vier Kinder haben alle Luftmatratzen, Wasserbälle und Surfbretter ausgepackt, die in der Garage zu finden waren. Wir haben den ganzen Nachmittag im Pool getobt. Ja richtig, in Dieters Haus gibt es einen Pool. Eigentlich finde ich es hier schon wirklich toll. Nur Papa vermisse ich sehr. Vielleicht kann ich ja morgen mal mit ihm telefonieren.

Aber jetzt ist Schluss für heute. Ich muss jetzt wieder los. Dieter hat im Garten den Grill angefeuert und wir essen gleich zusammen. Ich hab auch echt richtig Hunger.

Bis morgen! 

Deine Kalinka 

Leider war dies der erste und letzte Eintrag in Kalinkas Ferientagebuch. Kalinka lebt nicht mehr.

Am Abend des 9. Juli 1982 stellte der Stiefvater Dr. Dieter K. die Familie heimlich mit Beruhigungs- und Schlafmitteln ruhig. So schaffte er es, nachts unbemerkt im Zimmer des Mädchens zu sein. Dann nahm das Unfassbare seinen Lauf. 

Dem Mädchen wurde von ihrem Stiefvater eine Kobalt-Ferrlecit-Injektion verabreicht. Ein Medikament, das oft bei Eisenmangel angewendet wird. Jedoch werden dadurch häufig schwere Nebenwirkungen wie zum Beispiel der plötzliche Abfall des Blutdrucks sowie der Herzaktivität, Schmerzen, Atemnot, Übelkeit und Erbrechen verursacht. 

Bei unsachgemäßer Anwendung ist auch der Tod des Patienten nicht auszuschließen. Kalinka wurde eben dieses Präparat gespritzt.

Draußen ist es dunkel, dem Kind wird kalt. Trotz der lauen Sommernacht fröstelt dem Mädchen. Kalinka liegt schon im Bett, erschöpft von den Ereignissen des Tages. 

Sie spürt, wie sich unter ihrer Bettdecke ein Körper an den ihren schmiegt. Kalinka ist mittlerweile zu schwach, fast gelähmt, um sich zu wehren. Sie will weg, einfach nur weg. Raus aus dem Bett, raus aus dem Zimmer, am liebsten raus aus dem Haus.

Aber ihr Körper bewegt sich nicht. Nur ihre Gedanken bleiben klar genug, um zu verstehen, was passiert. 

Der große Körper ist nah, viel zu nah an ihrem eigenen. Sie hört seinen schweren Atem. Sie spürt seine Haut. 

Schmerz, Angst, Hilflosigkeit, tiefe Trauer. 

Die Frage nach dem ‚Warum‘ allgegenwärtig. 

„Wo bist du Mama?“ „Hilf mir Mama!“ „Papa!“ Die Gedanken schreien. Aber im Zimmer bleibt es still. „Geh weg!“ „NEIN!“ – Stille.

Ekel, Wut, Verzweiflung, Zorn 

Hass auf diesen Mann – dem sie vertraut hat, der ihr das nun antut. 

Dann beginnt ihr Körper, sich zu wehren. 

Vielleicht eine Reaktion auf das Medikament?

Kalinka wird übel. Sie muss sich übergeben, kann nicht atmen. Sie wird ohnmächtig, sie stirbt. 

Der Körper des Mannes, immer noch viel zu dicht an ihrem eigenen. 

Kalinka ist tot. 

Kalinka, ein 14-jähriges fröhliches Mädchen. In den Sommerferien im idyllischen Lindau. 

Kalinka, glücklich in der Patchwork-Familie. 

Kalinka, große Schwester mit so viel Lust aufs Leben. 

Kalinka, in der Nacht vom 9. auf den 10. Juli 1982, betäubt, gedemütigt, missbraucht, ermordet. 

Leni Richter, Q12