Ungefähr 3200 – so viele Straßenkinder gab es noch im Jahr 2000 in ganz Rumänien, allein in Timişoara sind es 2005 noch bis zu 250, aktuell wird die Zahl auf 35 geschätzt. Eine genaue Angabe ist schwer zu ermitteln, denn die Straßenkinder leben isoliert und besitzen oftmals keine Dokumente, keinen Pass.
Doch wieso sind so viele Kinder in einem europäischen Land von Obdachlosigkeit betroffen?
Die Ursache hierfür liegt hauptsächlich in der kommunistischen Vergangenheit Rumäniens. Der Staatschef Nicola Ceausescu wollte das rumänische Volk wachsen lassen und verbot deshalb jegliche Art der Empfängnisverhütung und der Abtreibung. Daraus resultierte eine Verdopplung der Geburtenrate, trotz illegaler Abtreibungsversuche von verzweifelten Frauen. Aufgrund unzureichender sozialpolitischer Maßnahmen und daraus folgender sozialer Probleme stieg die Verzweiflung bei vielen Eltern, weshalb sie die Verstoßung ihrer eigenen Kinder als einzige Möglichkeit ansahen, ihr eigenes wirtschaftliches Überleben zu sichern. Die Waisenhäuser waren nach kurzer Zeit völlig überlastet und die Kinder mussten dort unter miserabelsten Bedingungen leben. Nach der Revolution 1989 stieg die Zahl der nun legal gewordenen Abtreibungen und die Situation entspannte sich leicht.
Doch die Geschichte Rumäniens ist nicht der einzige Grund für die vielen Straßenkinder. Viele der Betroffenen flüchten von gewalttätigen Familien, in denen Alkoholkonsum und sexueller Missbrauch an der Tagesordnung stehen. Hinzu kommt, dass viele der Eltern im Ausland arbeiten und ihre Kinder zurücklassen müssen. Die wirtschaftliche Schwäche Rumäniens verschlimmert das Problem durch nur unzureichende Sozialleistungen.
Das „Zuhause“ der Straßenkinder sind U-Bahnstationen, Müllcontainer, Baustellen und auch die Kanalisation, wo es zwar dreckig, steinig und hart ist, aber immerhin etwas geschützter als unter freiem Himmel. Die Kinder und Jugendlichen bilden eine eigene Art von Familie, eine, die sie nie hatten. Es sind raue Gruppen, welche oftmals hierarchisch angeordnet sind – die Älteren haben das Sagen, organisieren das Betteln und Stehlen der Jüngeren, doch sie halten alle zusammen. Nicht nur Konflikte untereinander oder der Hunger sind alltägliche Dinge im Leben der Straßenkinder, auch die Körperhygiene ist teils nur mittels Wasserflaschen möglich, wodurch sich Krankheiten, wie Tuberkulose und zudem Läuse deutlich schneller verbreiten. Auch Geschlechtskrankheiten (AIDS, Syphilis, etc.) sind keine Seltenheit. Wenn der Hunger zu stark, die Gedanken zu laut werden, die Ängste zu dominierend oder die Straße zu hart wird, schnüffeln die Jugendlichen die Straßendroge Aro-Lac, ein Verdünnungsmittel in Plastiktüten, welches halluzinogene Wirkungen hat. Das Leben ist so kurzzeitig besser zu ertragen, jedoch kann es bei langfristigem Konsum zu Herz- und Hirnkrankheiten kommen. Unter dem Einfluss der Droge kommt es außerdem zu selbstverletzendem Verhalten und Konzentrationsproblemen. Wie in ganz Rumänien gibt es auch in Temeswar ein hohes Risiko für Kriminalität und Menschenhandel, sodass manche Frauen und Kinder von dort später in Wien oder auch Hamburg angeboten werden.
Es ist nicht ganz leicht, den Straßenkindern zu helfen, denn oftmals grenzen sie sich stark ab und sind es nicht mehr gewohnt, Regeln zu befolgen. Sie bleiben dann lieber unter sich. Inzwischen gibt es trotzdem viele Organisationen, die sich zur Aufgabe gemacht haben, den Kindern und Jugendlichen eine neue Perspektive zu bieten (z.B. Pater-Berno-Stiftung, IT, Kinderhilfe Rumänien etc.). Dort gibt es die Möglichkeit einer warmen Mahlzeit, einer Dusche, einer Art Unterricht, von Spielen und des Nachtasyls. Die Kinder kommen meist jedoch nur, wenn sie es z.B. wegen großer Kälte nicht mehr anders aushalten. Es gibt jedoch auch Ausnahmen – manche Kinder, die auf der Straße aufgewachsen sind, schaffen es z.B. auf der Schule „Die zweite Chance“, ihren Abschluss nachzuholen oder länger in einem Hilfszentrum zu bleiben – somit besteht eine Möglichkeit, ihr Leben langfristig tatsächlich zu verändern.
Die Situation der Straßenkinder in Timişoara heutzutage
Aus dem Interview mit Frau Edith Kirchmann (Kinderhilfe Rumänien e.V.)
Auch die Stadt Timişoara versuchte auf die problematische Situation zu reagieren, indem beispielsweise Gullideckel verschlossen wurden, sodass die Jugendlichen nicht mehr in die Kanalisation absteigen können. Trotzdem fanden sich immer wieder Wege, diese bauliche Veränderung zu umgehen – ebenso wie das Gesetz, dass die Straßendroge Aro-Lac nur an Kunden mit Ausweis verkauft werden darf. Die Öffentlichkeit reagiert meistens abweisend und diskriminierend auf die Straßenkinder, was alleine schon an ihrem umgangssprachlichen Namen „Rattenkinder“ gut erkennbar ist. Auch Misshandlungen seitens der Polizei gegenüber den Kindern waren keine Seltenheit, vermehrte Warnungen aus der EU führten hier jedoch zu einer Verbesserung. Inzwischen leben auf den Straßen in Timişoara keine Kinder mehr. Es ist verboten, sodass sie von der Polizei in verschiedene Kinderheime und andere Einrichtungen gebracht wurden. Zudem gibt es inzwischen auch mehrere Bücher, Stücke und Filme, die versuchen, auf das Thema aufmerksam zu machen, wie beispielsweise „Wenn ich weine, schlägt mein Herz“ (Anne Schütze, 2008) oder „Die Stelzen“ (Francisca Ricinski, 2003).