Die Schülerzeitung des Valentin-Heider-Gymnasiums

Im grauen Bus zur Endstation

„Julius? Wo bleibst du, Schatz?“, rufe ich in Richtung des Hinterzimmers unseres kleinen Ladens. „Das alte Ding kannst du später reparieren. Wir haben Kunden!“ „Kannst du dich, bis ich wieder da bin, bitte an die Kasse stellen?“, bitte ich ihn. „Ich bring nur schnell den Brief für Emil zur Post.“, füge ich hinzu. Ich verlasse unser kleines Geschäft wohlwissend, dass Julius es nicht übers Herz bringen wird, sich von seinen geliebten kolonialen Gegenständen zu trennen. Auf dem Weg zum Postamt auf der Insel muss ich an meinen Sohn Emil denken. Was er wohl gerade macht? Und vor allem, wie geht es ihm gerade?

Damals, als Emil noch jünger war, um die 20 Jahre wird er alt gewesen sein, dachte ich, dass sich das Problem mit seinem geistigen Zustand von allein lösen würde. „Eine Phase“, dachte ich. „Wäre er genauso krank geworden, hätten wir ihm früher eine Therapie empfohlen?“, frage ich mich, während ich die Inselbrücke überquere.

Diesen Gedanken trage ich schon sehr lange mit mir herum. Sei`s drum. Ändern können wir sowieso nichts mehr daran. Das Wichtigste ist, dass Emil jetzt in guten Händen ist. In der Heil- und Pflegeanstalt Kaufbeuren-Irsee ging es Emil gut. Er berichtete in seinen Briefen und bei persönlichen Gesprächen, dass es ihm dort sehr gefalle und er, auch bezogen auf seine Krankheit, Fortschritte mache.

Umso überraschender kam die Meldung, dass Emil in eine Einrichtung im Schloss Grafeneck verlegt werden soll. In dem Brief, den Emil kurz vor seiner Ankunft in Grafeneck geschrieben hatte, berichtete er, dass viele andere aus seiner alten Einrichtung, trotz der großen Entfernung der Anstalten, nach Grafeneck auf der Schwäbischen Alb überstellt wurden. „Wir fahren in grauen Bussen“, schrieb Emil. Julius und ich rätselten oft, was es mit der plötzlichen Verlegung, welche sogar ohne unser Einverständnis stattfand, auf sich haben könnte. Zu einem vernünftigen Ergebnis kamen wir allerdings nicht. „Vielleicht Renovierungen …“, dachten wir.

Um den Kopf frei zu bekommen, entscheide ich mich, noch etwas über die Insel zu schlendern. Vorbei an den Kirchen, vorbei am Löwen, vorbei am Hafen, bis ich beim Leuchtturm anlange. Hier habe ich früher sehr viel Zeit mit Emil und Julius verbracht. Immer, wenn wir hier waren, genossen wir die Aussicht auf die andere Seeseite. „Julius! Der Laden!“, denke ich und beeile mich, zum Postamt zu gelangen. Dort überreiche ich einem Angestellten meinen Brief für Emil. Ich bin schon sehr gespannt, was Emil aus seinem neuen Heim berichten wird. „Ob es ihm dort genauso gut gefällt, wie in Kaufbeuren?“, frage ich mich. Ich bin mir sicher, dass sich Emil über unser Angebot, ihn in Grafeneck zu besuchen, freuen wird. Ich hoffe, er antwortet bald.

Ich beeile mich, zurück zu unserem Laden zu gelangen. Julius alleine im Laden… Ich sehe das kleine Häuschen mit dem Schild „Kolonialwarenhandlung Haug“ schon von Weitem. Doch irgendetwas ist komisch. Die Tür, die normalerweise weit geöffnet ist, um den Kunden zu signalisieren, dass wir geöffnet haben, ist geschlossen. Ein entsprechendes Schild hängt ebenfalls an der Tür, wie ich bei weiterem Annähern feststellen muss. Um diese Uhrzeit… „Den knöpf ich mir vor!“

Ich öffne die Ladentür und laufe stampfend auf das Hinterzimmer zu, in dem ich meinen Mann vermute. Beim Näherkommen überlege ich mir schon, wie ich meine Anschuldigung bestmöglich und unmissverständlich ausdrücken kann. Ich reiße die Tür zum Hinterzimmer auf und sehe Julius. Bleich, nein weiß. Entsetzt, nein entsetzlich. Bewegungslos, taub. Schock.

„Julius“, beginne ich flüsternd, „was…was ist passiert?“ Erst jetzt sehe ich, dass ein Brief vor ihm auf dem Tisch liegt – ein geöffneter Brief. Zuerst schießt mir ein Datum in die Augen: „16. September 1940.“ Danach nur noch Wörter: „Emil“, „Anstalt“, „Venenentzündung“, „verstorben“, „Qual“, „Erlösung“, „Einäscherung.“ Stille. Weder Julius noch ich reden. Ich falle und habe Glück, auf einem Stuhl zu landen. Stille. 

Im Laufe der Jahre fragte ich mich immer wieder: „Wie?“ und „warum?“. Emil war körperlich vollkommen gesund. Julius und mir blieb es ein Rätsel, wie genau Emil zu Tode gekommen war. Auf Anfragen bei der zuständigen Behörde konnte uns ebenfalls niemand helfen. Die Informationen, die in dem Brief der Todesnachricht stehen, sind alles, was wir haben. Heute habe ich wieder an ihn gedacht. Ich glaube, Julius und ich müssen uns damit abfinden. Ich war zudem sehr traurig darüber, dass Emil, ohne unser Wissen, eingeäschert wurde und wir uns nicht mehr von ihm verabschieden konnten. „Hätten wir ihn doch nochmal besucht“, werfe ich mir immer wieder vor.

„16. September 1945“, das Datum meiner morgendlichen Zeitung. Sofort weiß ich, was dieses Datum bedeutet. „Emil“, höre ich, trotz der Stille um mich herum, die nur von Julius, der sich keine Mühe gibt, sein Frühstück leise zu verzehren, gestört wird.

Plötzlich steht es da: „Grafeneck.“ – gerade heute. Wie in Trance starre ich die Zeitung an und erhoffe mir Informationen über den Tod meines Sohnes und dessen Ursache. Ich kenne dieses Gefühl. Ich kenne es ganz genau. Ich fühle mich, als wäre die Zeit zurückgespult worden. Genau fünf Jahre. Heute vor fünf Jahren. Es ist kein bisschen anders. Schock. Wieder nur Wörter: „Schloss Grafeneck“, „Rassenhygiene-Programm“, „Mord“, „Mordanstalt“, „Euthanasie“, „systematische Ermordung“, „graue Busse.“ Jetzt weiß ich es. Jetzt habe ich Gewissheit. 

Diese Geschichte erzählt von Emil Haug, der Opfer der nationalsozialistischen Regierung und deren krankem Drang, alles Leben auszulöschen, was aus deren Sicht nicht lebenswert ist, geworden ist. Die Geschichte ist aus Sicht seiner Mutter, Berta Haug, geschildert. 

Louis Böhme, Q12