Die Schülerzeitung des Valentin-Heider-Gymnasiums

Erinnerungen an unsere Lilienbank

Meine allerliebste Cäcilie,

mein Herz zerbricht in tausend Stücke, während ich dir diese Zeilen schreibe.

Ich wollte stark sein, für mich selbst, für meinen Bruder und vor allem für dich.

Meine Kräfte sind jedoch am Ende. Seitdem ich Lindau verlassen musste, lebe ich in Angst. Eine Angst, die mich seither verfolgt wie mein eigener Schatten. Mir kam jede mögliche Rückreise in den Sinn, aber es scheint aussichtslos. 

Ich fühle mich überall von Soldaten beschattet und der Wahn, verfolgt zu werden, bestimmt mein Dasein. Der einzige Gedanke, der mich weiterkämpfen lässt, bist du. 

Aber je weiter ich von dir rennen muss, desto kraftloser werde ich. Sei mir nicht böse, meine Lilie. Ich komme nicht mehr nach Hause. Ich bitte dich, lebe ein erfülltes Leben. Ich werde dich in meinem Herzen immer festhalten und du wirst mich hoffentlich weiter in deinem tragen. Und wenn du mal traurig bist, setze dich an unseren Platz am Kleinen See und ich werde dich dort treffen. Ich gebe auf. Aber nicht wegen dir. Du bist das Einzige, was mich so lange gestärkt hat. Ich möchte mich nicht mehr für das, was ich bin, verstecken müssen. 

Die Nazis haben versucht, mir alles wegzunehmen.

Mit meinem Leben musste ich bezahlen, aber meine Liebe für dich bleibt ewig. 

Sei nicht zu traurig, Lilie. Jedes Mal, wenn du den Mond anschaust, verspreche ich, dir zuzulächeln.

In Liebe 

Dein Julius

Monate sind vergangen, seitdem ich diesen Brief meines Mannes erhalten habe.

Nachdem er den Lindauer SS-Soldaten entkommen konnte, waren Julius und sein Bruder auf der Flucht. Nur Alfons kehrte zurück, jedoch ohne Julius und nur mit dem Brief in der Hand, der mein ganzes Leben auf den Kopf stellte. Alfons verließ Lindau sofort wieder, aus Angst,erwischt zu werden und riet mir, genau dasselbe so schnell wie möglich zu tun. 

Vorerst wurde ich jedoch von der Verfolgung verschont, da ich nicht, wie Julius und sein Bruder, als Jüdin geboren bin, sondern als Evangelische. 

Ich war seither jedoch immer die Verräterin, die den „dreckigen Juden“ geheiratet hatte. Meine vergangenen Wochen waren gefüllt mit Verzweiflung und Trauer. Seitdem überkommen mich Hunderte Emotionen und ich weiß gar nicht mehr, was ich zu denken habe. Was Julius mir jetzt sagen würde, kann ich mir nur vorstellen. Er würde genau die richtigen Worte finden, um mich zu beruhigen, und mir das Gefühl von Sicherheit vermitteln. Aber ich bin hier nicht mehr sicher.

Ich fühle mich in meiner eigenen Heimat fremd. Es sind so viele Menschen um mich herum und dennoch bin ich einsam. Mir ist klar, dass ich mich nicht ewig in diesem Haus verstecken kann. Wir haben lange Zeit zu dritt auf dem Haldenhof von Alfons bis zu dem Zeitpunkt gewohnt, als die beiden die Stadt plötzlich verlassen mussten. Seitdem bin ich allein.

Um mich abzulenken, gehe ich oft auf den Lindauer Markt oder mache Spaziergänge an den Kleinen See, den Julius und ich so gerne besucht haben. 

Dort ist es still und idyllisch. Dort werde ich nicht mit kritischen Blicken gemustert. Dort bin ich einfach nur Cäcilie Herzberger, die Witwe, die um ihren Mann trauert, der sich selbst das Leben genommen hat. 

Neben der Bank, auf der wir immer saßen, wachsen Lilien. Julius hat mir ab und zu einige gepflückt und mitgebracht. Er hat mich deshalb immer „seine Lilie“ genannt.

An einem Vormittag werde ich von einem stürmischen Klingeln geweckt. Als ich durch das Schlafzimmerfenster hinausschaue, blicke ich auf Amelie Fischer, eine Frau, die ich aus der evangelischen Gemeinde wiedererkenne. Ihr Mann ist Politiker und Teil der NSDAP.  Er war mitverantwortlich für die Verfolgung meines Mannes. Nach langem Überlegen öffne ich die Tür, ohne zu wissen, was mich gleich erwartet. Direkt, nachdem Frau Fischer mich sieht, versucht sie, mir hysterisch etwas zu vermitteln, das durch ihre Aufregung kaum zu entschlüsseln ist.

Nach einiger Zeit sammelt sie sich und schaut mich so bemitleidenswert an, wie man eine einsame Frau nur anschauen kann. „Cäcilie, du musst Lindau sofort verlassen!“, teilt sie mir in einem ängstlichen Tonfall mit. „In einem Telefonat meines Mannes, das ich mitgehört habe, wurde ihm der Auftrag gegeben, dich deportieren zu lassen. Ich bitte dich, Cäcilie, das weißt du nicht von mir. Ich rate dir, verlasse die Stadt sofort, solange es noch möglich ist!“. 

Um mich herum wird alles still und ich kann kein anderes Wort, das sie sagt, noch aufnehmen. In einer Art Schockstarre bedanke ich mich und schließe die Tür genau vor ihrer Nase, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hat, noch etwas weiteres zu sagen. Ich gehe hoch in mein Schlafzimmer und hole den Abschiedsbrief von Julius erneut hervor. Seine Angst, die er verspürt hat, kann ich genau herauslesen und zum ersten Mal fühle ich sie auch. Es spricht sich schnell herum, was mit dem Auftrag ,,deportieren“ gemeint ist. Alfons hatte Recht, ich muss Lindau so schnell wie möglich verlassen oder ich bin tot.

Hysterisch beginne ich sofort damit, all meine wichtigsten Sachen zusammenzupacken. Immer wieder fange ich an zu zittern und verfalle in Panik. Ich erinnere mich an den Tag, an dem Julius mich verlassen musste. Er war genauso ängstlich und zerrissen. Damals wollte er stark für mich sein, aber ich wusste, was er gefühlt haben musste. Jetzt bin ich an der Reihe, stark zu sein. 

Nachdem alles gepackt ist, entschließe ich mich dazu, ein letztes Mal noch den Markt zu besuchen. Ich brauche schließlich Proviant, um meine Reise zumindest nicht hungernd zu bewältigen. Ich habe keine Ahnung, wohin ich flüchten soll. Julius hat sich sein eigenes Leben genommen und wo Alfons sich befindet, weiß ich nicht. Hoffentlich ist er sicher. Zum Glück habe ich noch restliche Reichsmark, die mir Julius überlassen hat, um mir Brot zu kaufen. Der Markt ist anders als sonst. Ein Ort, an dem ich mich einst so wohl gefühlt habe, fühlt sich jetzt so an, als wäre ich noch nie dort gewesen. Ich kaufe mir alles Nötige, und mache mich auf den Heimweg. Ein letztes Mal drehe ich mich zu dem Marktplatz um und lasse leise Tränen über meine Wangen kullern. Zu verstehen, mein Zuhause hinter mir zu lassen, zerbricht mir mein Herz. Lange Zeit zu trauern habe ich jedoch nicht. Jede Minute, die ich verschwende, kann mein eigenes Todesurteil sein. Ich beeile mich, um zurück zu Alfons Haus zu gelangen. Schließlich muss ich bald in irgendeinen Zug einsteigen, dessen Ziel mir noch unbekannt ist.

Als ich die Kreuzung zu dem Haus entlanglaufe, bleibt mein Herz stehen. Vor dem Hof steht Herr Fischer und eine Gruppe SS-Soldaten. Gekleidet in ihren braunen Uniformen mit einer roten Hakenkreuz-Binde und den zugehörigen Dienstkappen sind sie überall bekannt und vor allem gefürchtet. Mein Blick richtet sich auf ihre Gesichter, die an Mauern erinnern. Von Mitgefühl fehlt jede Spur, nur Leere und Kälte sind abzulesen.

Ich bewege mich langsam rückwärts, in der Hoffnung, keinen Mucks von mir zu geben.

In dem Moment, in dem einer der Soldaten mich erblickt, wird es still. Nichts außer sanfter Stille.

Eine Gruppe Männer rennt auf mich zu, aber ich bewege mich keinen Zentimeter. Ich schließe meine Augen und sehe Julius mit einem Strauß voller Lilien. Alles, was um mich passiert, ist unwichtig, denn er ist da. Ich halte meine Augen geschlossen und genieße die idyllische Stille, wie an unserem Ort am See.

„Was passiert mit ihr, Herr Fischer?“

„Deportation, Soldat! “

Cäcilie Herzberger (1879 -?), geborene Cassel, als evangelische Christin geboren, heiratete später den jüdischen Geschäftsmann Julius Herzberger, der 1933 mit seinem Bruder die Flucht aus Lindau ergriff. Cäcilie wurde später selbst Opfer des Nationalsozialismus und wurde in das Konzentrationslager Auschwitz verschleppt, in dem sie zu unbekanntem Zeitpunkt ermordet wurde. 

Kim Dlugosch, Q12