„Hass fühlt sich ganz ähnlich an wie Liebe.“, denkt die junge Frau und starrt auf die Tischplatte vor ihr. Der Raum ist dunkler als am vorherigen Tag, wahrscheinlich, weil es eine spätere Stunde ist. Der Mann ihr gegenüber ist jedoch der Gleiche, heute hat er das Protokoll ihrer gestrigen Aussagen vor sich. Ganz oben steht ihr Name, den Rest kann sie nicht lesen.
„Ich werde Ihnen einige Fragen zu ihrer Tat stellen.“ Sie antwortet nicht, aber es wird auch keine Antwort von ihr erwartet. „Sie wurden wiederholt von Bauernhöfen entlassen, weil Sie nicht in der Lage waren, Hygienevorschriften einzuhalten, darunter ein Bauernhof in Motzach und Oberhof, richtig?“ Sie nickt, doch als er nicht weiterspricht, fügt sie hinzu. „Richtig, Herr Oberstleutnant.“ „Halten Sie es nicht für notwendig zu arbeiten, liebes Fräulein Liese? [Name frei erfunden]“ Es wundert sie beinahe, dass er sie noch siezt und ihren Namen verwendet, in seinen Augen ist sie doch nur „asoziales Gesindel“, eine Person, die nicht in der Lage ist, sich an die Vorschriften zu halten, eine Person, die eine angemessene Strafe verdient. Warum fragt er sie überhaupt? Sie schüttelt den Kopf. „Ich weiß, dass jeder seinen Teil für die Volksgemeinschaft beitragen muss. Egal, ob Mann oder Frau, jeder muss arbeiten.“ Die ideologiekonforme Antwort scheint ihn zu ihrer Enttäuschung nicht zufrieden zu stellen, denn er hakt erneut nach.
„Das ist wahr. Sie scheinen anderer Meinung zu sein? Haben Sie dem Betrieb auf den Höfen bewusst zu schaden versucht? Haben Sie sich so erhofft, von Ihrer Aufgabe befreit zu werden?“ In ihrem Kopf geht sie die letzten Wochen nochmal durch. Wo war sie unaufmerksam gewesen? Hatte einer der Männer der Landwacht sie gesehen? War ihr tatsächlich die leuchtend weiße Armbinde nicht aufgefallen? Auch der blasse, schlaksige Bauernjunge könnte sie gemeldet haben, er war ihr schon immer zu unsicher vorgekommen. Es war ein Schluck Milch hier gewesen, eine dreckige Schürze da, ein mit bloßen Händen angefasstes Stück Käse dort. Offiziell „volksschädlich“, aber nichts, was im Endeffekt einen Schaden angerichtet hatte. „Ich wurde belästigt.“ Der Beamte ihr gegenüber wirkt kurz amüsiert. „Wer hat Sie denn von Ihrer Arbeit abgehalten?“ Das Gesicht des jungen Mannes taucht vor ihrem inneren Auge auf, in den feinsten Details, so oft hat sie es sich in den letzten Wochen vorgestellt, so genau hatte sie es sich eingeprägt. Es war ihr unklar, was sie an diesem schön oder anziehend gefunden hatte, jetzt ekelte sie es schlicht an. Er wusste wahrscheinlich nicht einmal mehr, welche Augenfarbe sie hatte. „Einer der Zwangsarbeiter aus Polen auf dem Bauernhof in Motzach. Nach unserem ersten zufälligen Treffen stellte er mir vermehrt nach, belästigte mich und hielt mich von der Arbeit ab.“ „Inwiefern tat er das?“ Sie waren am Waldrand spazieren gegangen, an einem warmen Sommertag, hatten die reifen Kirschen direkt vom Baum gegessen, ihr eigenes und Marias schrilles Lachen klang ihr noch in den Ohren nach. Manchmal war sie so einfältig.
„Wann immer er mich sah, sprach er mich an, motivierte mich, meinen Arbeitsplatz zu verlassen oder berührte mich ungefragt. Er sorgte dafür, dass ich mich nicht mehr richtig konzentrierte, sodass mir Flüchtigkeitsfehler unterliefen.“ „Sie würden es also als einen Flüchtigkeitsfehler bezeichnen, unerlaubt Milch aus einer Kanne abzuschöpfen?“ „Das ist nur ein einziges Mal mit Iwan zusammen vorgekommen.“ Eine schlechte Ausrede, sie weiß das. Aber sie kennt auch die Strafen, die die Behörden für „asoziales Gesindel“ verhängen. Iwan würde seine Zurückweisung noch bereuen.
„Was wissen Sie über Iwan Paczyk?“ Eine einfache Frage. Zumindest sollte es ihr leichtfallen, sie zu beantworten. Ihre Lügen umfangen sie jetzt schon wie ein klebriges Netz und trotzdem zögert sie einen winzigen Moment, bevor sie fortfährt. „Er kam 1941 auf den Hof. Ich weiß noch, wie dünn und schwach er damals war, diese Ausstrahlung ist er eigentlich nie losgeworden. Aber er konnte gut knüpfen, also haben sie beschlossen, ihn durchzufüttern. Ich glaube, er braucht immer Bestätigung von allen um ihn herum, wahrscheinlich stellte er mir deshalb nach.“
Die Lügenspinne krabbelt ihr über das Gesicht, über ihren Mund und in Richtung ihrer Augen. Sie unterdrückt den Impuls sie wegzuschlagen. Alle auf dem Hof wussten, dass Iwan einmal von dem Leiter der Milchzentrale dabei beobachtet worden war, Rahm zu trinken und sein Name seitdem bei der Gestapo zumindest bekannt war. Sie weiß, dass ihre Aussage sein Todesstoß sein wird. Man wird ihn verhaften, verhören und hart bestrafen. Aber schuldet er es ihr nicht, sie zu retten?
Die nächsten Minuten stellt der Beamte genauere Fragen über ihre Zeit mit Iwan, sie hält an ihrer Geschichte fest, erfindet immer neue Details, während sie ihre Hände in ihrem Schoß ineinander verkrallt. Sie zittern immer stärker, er soll es nicht merken. Schließlich nickt er leicht, schlägt ihre Akte zu und dreht sich in Richtung der Tür, vor welcher ein weiterer Mann steht. „Wir sind fertig, bring sie zurück!“, weist er an und steht auf. Die Lügenspinne krabbelt durch ihre Nase, sie spürt, wie das Tier ihre klebrigen Fäden in ihrem Hals verteilt, ihr die Luft zum Atmen nimmt. Die Luft scheint dünner zu sein, ein Würgen steigt ihr auf. Sie schluckt es zusammen mit der giftigen Spinne herunter, folgt dem Beamten durch die Gänge der Gestapo-Zentrale. Wie sehr sie das fast schon ironisch weiße Gebäude mit dem Hakenkreuz über der Tür hasst.
Erst später in ihrer Zelle fällt ihr ein, dass ihre Aussagen und Fragen nur den Motzacher Bauernhof betrafen. Für all die anderen Vergehen hat sie keine Ausrede genannt.
Iwan Paczyk wurde am 27. Oktober 1944 auf dem heutigen Golfplatz in Schönbühl nördlich des Klosterweihers erhängt, obwohl sich die Bauernfamilie und sogar der NS-Bauernführer für den Jugendlichen einsetzten. Er wurde somit 16 Jahre alt. ZwangsarbeiterInnen der umliegenden Bauernhöfe und die Bauern wurden von der NSDAP-Leitung angewiesen, der Hinrichtung beizuwohnen. Auch die Magd, welche den Jugendlichen denunzierte, wurde schließlich hingerichtet.
Helen Kaps, Q12