Die Schülerzeitung des Valentin-Heider-Gymnasiums

Die Schreckensnacht

Ein Lichtstrahl scheint in die Dachkammer, dunkle Schatten huschen hin und her und bringen das Licht zum Tanzen. Das Flackern reißt mich aus dem Schlaf. Die Turmuhr schlägt elf Mal, der Glockenschlag hallt durch die schlafenden Gassen. Alles ist still, vor allem jetzt im Spätsommer, wenn viele Lindauer für die Weinlese auf dem Festland übernachten. Doch der Lichtschein macht mich misstrauisch. Wer lässt zu solch später Stunde die Kerzen an? Der Gedanke lässt mich nicht los und ich schleiche über die ächzenden Dielen zum kleinen Fenster. Im Haus gegenüber ist das Dachzimmer hell erleuchtet. Da sind wieder die Schatten. Eine Gestalt, klein gebaut, steht an einem glühenden Schmelzofen. Doch es ist nicht mein Nachbar, Gürtlermeister Frey sondern es muss sein Schwager, der Humler, sein. Dieser Taugenichts hat Unterschlupf bei seinen Verwandten gesucht und nichts Besseres im Kopf, als arme Leute vom Schlaf abzuhalten. Eine zweite Person kommt in die Kammer, spindeldürr mit gekrümmtem Rücken und feuerrotem Haar, das ist er, Johannes, Johannes Frey. Nun stehen sie gemeinsam an der Glut und hantieren mit verschiedenen Kolbengläsern. Was tun sie da? Sie sind doch nicht etwa dem Wahn der schwarzen Kunst verfallen, versuchen doch nicht etwa Gold oder Silber herzustellen wie die Alchemisten? Der Wunsch nach Reichtum hat schon manchen ins Verderben gestürzt. Die Zeiten sind hart für jeden, ich als Schuhmacher muss mich jeden Tag für nur wenige Groschen plagen. Auch beim Gürtlermeister reicht es kaum, um die sechs hungrigen Mäuler zu stopfen. Und trotzdem, solch unchristliches Schaffen bringt doch keinen Segen, er lässt sich verleiten von einem Taugenichts! 

Mein Weib dreht sich und hört auf zu schnarchen. Ich lege mich seufzend zurück ins Bett, die Erschöpfung vom Tagwerk lässt mich rasch wieder schlafen.  

Ein Nordweststurm bläst durch die schlafenden Gassen und treibt rauschend die ersten Herbstblätter vor sich her. Still und dunkel liegt die Reichsstadt. Die Glocke schlägt die erste Stunde.

„Feurio!“ Ich schrecke hoch. Grundgütiger, was ist passiert? Das Horn des Nachtwächters tönt über die Stadt, dann höre ich seinen Ruf „Feurio, Feurio!“ – Feuer! In der Stadt muss es brennen. Ich springe auf, wecke Weib und Kind, suche Hose, Schuhe, ziehe hastig meine Joppe über und stolpere die steilen, schmalen Stiegen hinunter. Da fängt die große Glocke an zu läuten – die Sturmglocke. Ich öffne die Tür und werde taub und blind, mir fehlt die Luft, beißender Rauch wird durch den Wind in die Gassen gedrückt. Sengende Hitze brennt auf meinem Gesicht. Unter Tränen sehe ich das Feuer, ein entsetzlicher Anblick: Nicht nur das Gürtlerhaus steht zur Gänze in grellen Flammen, sondern auch das angehängte Hinterhaus. Meterhoch schlagen die Lohen aus den Dachstühlen. 

Noch während ich versuche, mit den Männern eine Wasserkette zu bilden, um Wasser aus dem See zum Brand zu schleppen, sehe ich, wie das furchtbare Element schon auf die nächsten Häuser übergreift. Gleich brennt die ganze Cramergasse, die glimmenden Holzschindeln der Dachstühle fliegen wie Geschosse umher und zündeln weiter. Der unerbittliche Nordwestwind facht die Feuer an wie ein Blasebalg die Glut im Ofen, alles lodert, züngelt, glüht. Frauen rennen, Schreie gellen, Glocken läuten, Scheiben bersten, Balken brechen, Funken springen, Häuser stürzen in sich zusammen, dichter Rauch hüllt alles ein und heiße Tränen rennen meine Wangen herunter. Mit allen Kräften versuchen wir, die wütende Feuersbrunst aufzuhalten. Doch unaufhaltsam frisst sie sich von Dach zu Dach, wie Schlangen züngeln die Flammen durch die engen Gassen von Haus zu Haus, verzehren, verwüsten und verwandeln die Stadt in ein einziges Feuermeer. Rette sich wer kann, rette jeder sein Leben! Hilferufende Kanonenschüsse hallen über die Außengemeinden. Jetzt brennt die Grub bis hoch zum Spital, das Haus der Familie de Kawatz und die Stiftsgebäude sind auch von Flammen ergriffen. Der brennende Turm der Stiftskirche lodert wie eine Fackel im dunklen Nachthimmel. Von der umherfliegenden Glut und der Hitze fängt auch der Turmhelm der Stephanskirche Feuer. Herrgott – jetzt steht dein Haus in Flammen! Da drängt sich Pfarrer Bonaventura Rietsch durch die gaffende und schaffende Menge, wirft sich vor der Kirche flehend auf die Knie und betet inbrünstig zum Allmächtigen.

Da kommt schon der nächste Ledereimer kläglich mit Wasser gefüllt, den ich in fieberhafter Eile weiterreiche. Aber es ist ein heilloses Unterfangen. Hat man eine Stelle gelöscht, fangen zehn andere an zu brennen. Der rote Drache scheint unersättlich. Wir kämpfen mit Wasser, doch die Flammen sterben erst dann, wenn auch das letzte Holz verkohlt ist, von den Häusern nur noch der blanke Stein auf dem Erdboden glüht. 

Der Morgen graut, die Feuersbrunst hat alles verzehrt. Ganz Lindau liegt in Schutt und Asche, 48 Häuser sind dem Erdboden gleich und die meisten von uns haben nicht mehr als die Kleider auf dem Leib gerettet. Nur die Häuser der Gerber blieben verschont, da sie feuchte Felle aus den Gruben auf die Dächer gelegt haben. Gott hilft dem, der sich selbst helfen kann. Oder dem, der auf ihn vertraut. Die Gebete unseres Pfarrers wurden erhört und unsere Kirche, die evangelische Stephanskirche, überstand die Schreckensnacht. Den vermaledeiten Humler hat man in Lindau nie wieder gesehen, der Gürtlermeister Frey, arm und schuldig, suchte sein Glück in Übersee.

Der Stadtbrand wütete in der Nacht vom 15. Auf den 16. September 1728. 48 Häuser wurden zerstört aber glücklicherweise gab es nur zwei Tote.  Durch zahlreiche Spenden anderer Städte konnte Lindau rasch wieder aufgebaut werden und das den Lindauer Marktplatz prägende Gebäude, der Cavazzen, wurde von der Patrizier Familie Seutter von Loetzen neu aufgebaut.  Dass die evangelische Stephanskirche verschont blieb, wird heute der robusten Bauweise zugeschrieben, damals glaubten die Lindauer an ein Wunder.  

Lotta Kneller, Q12