„Doktor Faltlhauser?“ Er blickte aus dem Fenster, es schneite draußen. Der Winter hatte den Innenhof der psychiatrischen Klinik in ein helles Weiß gehüllt. Es sah friedlich aus, fast so als wäre die Welt in Ordnung. „Doktor?“ Der Schein trog, nichts war in Ordnung und jeder, der auch nur einen Funken Verstand besaß, wusste es.
„Doktor Faltlhauser, ich wollte-“ – „Was in Herrgotts Namen, Franziska? Was wolltest du?“, zischte der Direktor der psychiatrischen Klinik Kaufbeuren. Er hatte sich umgedreht und blickte nun in das aufgeplusterte Gesicht seiner Sekretärin Franziska Vill, welche in der Tür seines Büros stand. Sie war so naiv, immerzu musste sie alles und jeden anlächeln und so tun, als wäre die Welt ein schöner Ort voller Freundschaft und Glückseligkeit. Er hasste alles an ihr, am meisten ihre gemusterten Röcke und den Geruch von frischem Apfelkuchen, den sie immer hinter sich herzog. Das Lächeln in ihrem Gesicht war verschwunden, sie blickte verunsichert im Büro des Direktors umher, scheinbar auf der Suche nach etwas, an dem sie sich festhalten konnte. Doch außer der dunkelgrünen Tapete und dem Schreibtisch aus massivem Eichenholz, auf welchem ein Aschenbecher und eine halbvolle Flasche Whiskey standen, blieb ihr nichts. „Ich wollte Bescheid geben, dass die Schwestern sich wieder beschwert haben. Es sei zu kalt, die Patienten würden frieren und ihre Finger blau anlaufen.“ Sie war so verunsichert, dass der Doktor gar nicht anders konnte als es auszunutzen. „Hör mal, Franziska, wenn ich die Zeit hätte, mich um jedermanns Extremitäten zu kümmern, dann wäre das hier keine Klinik, sondern eine Malwerkstatt für Kleinkinder.“ Es gefiel ihm, sie niederzumachen. „Wenn du glaubst, dass es mich interessiert, worüber sich irgendjemand von ganz unten beschwert, frag ich mich, warum du noch nicht von mir entlassen worden bist.“ Er schrie sie nahezu an. „Deinen dämlichen Hundeblick kannst du dir sparen“, er stand aus seinem mit Lammleder bezogenen Sessel auf, „denn der funktioniert nur bei Dr. Gärtner, wie wir alle wissen.“ Der etwas molligen Sekretärin wich momentan die Farbe aus dem Gesicht. Ihr verschreckter Blick erfüllte den Direktor mit einem wohligen Gefühl der Befriedigung. „Jeder hier, sogar die Geisteskranken aus dem Kellergeschoss, wissen, dass du ein Verhältnis mit ihm hast.“
Nachdem der Direktor wütend an seiner Sekretärin vorbei, durch die Tür und die Treppen hinab, in die Eingangshalle gestürmt war, hielt er kurz inne und versuchte, sich zu beruhigen. Trotz der Ereignisse der letzten Wochen musste er vor seinem Personal seine Professionalität wahren. Der Druck der Regierung lastete auf ihm, eigentlich war er Psychiater geworden aus Überzeugung, er wollte Menschen helfen, doch seit Kriegsbeginn war alles anders. Die Klinik Kaufbeuren war die größte in der Umgebung, über tausend Patienten versuchte man vor Hitlers Machtergreifung auf dem Psychiatriegelände zu helfen. Gegen die erste Aktion der Regierenden hatte er sich noch versucht zu wehren, die Liste mit Namen von Patienten, welche in die Tötungsanstalten Grafeneck und Hartheim transportiert werden sollten, hatte er in seinen Kamin geworfen. Doch als die Transporter, welche eher Transportern für Weidevieh glichen, in der Auffahrt der Klinik standen, war ihm klar, dass er keinerlei Macht mehr besaß. 1941 kam der letzte Transporter, 687 Patienten ließen in dem später als Aktion T4 bekannten Tötungsprogramm ihr Leben. Damit gingen die Probleme für Valentin Faltlhauser erst los: Die Landesfürsorgeverbände Bayerns pochten auf eine Minimierung der Unterbringungskosten der Patienten, seit Kriegsbeginn wurde es immer schlimmer. Es gab nur noch Suppen mit etwas Brot zu essen, kein Fleisch und kein Gemüse mehr. Die Räume waren eiskalt, kein einziger Kamin war an, trotz des kalten Winters, welcher im Januar 1944 wütete. Die Patienten, unterernährt wie sie waren, starben an allerlei Ursachen, manche so kläglich, dass man ihre Schreie bis in das oberste Stockwerk hören konnte.
Der Direktor hatte sich gesammelt und trat nun seine Mittagsvisite zehn Minuten früher als normalerweise an. Zuerst besuchte er die Beschäftigungsräume, wo Patienten mit Flechtarbeit eine Aufgabe gegeben werden sollte. Die Schwestern und Ärzte in den Gängen sahen ihn nur missgünstig an. Seit einiger Zeit machte das Gerücht die Runde, der Direktor sei nicht mehr bei Sinnen, könne keine Entscheidungen mehr treffen und würde zwischen den ganzen Verrückten selbst verrückt werden. Als er auf die Isolationsstation kam, lief eine aufgeregte Schwester auf ihn zu. „Herr Doktor, eine Kranke, sie hat sich aus der Fixierung befreit und jetzt-“. Ohne seine Angestellte ausreden zu lassen, machte sich Valentin Faltlhauser im Laufschritt über den dunkelgrünen Linoleumboden auf den Weg zu Zimmer B034, instinktiv wusste er, um welche Patientin es sich handeln musste. Er hörte ihr Wüten schon von Weitem, die Schreie gingen dem Direktor durchs Mark. Er riss die Stahltür zu ihrem Zimmer auf, dahinter verbarg sich ein grauenhafter Anblick: eine abgemagerte, junge Frau in einem Krankenhaushemd, in ihrer Hand eine Spritze, die sie einer Pflegerin abgenommen haben musste und vier Schwestern, die versuchten, beruhigend auf sie einzureden und sie zu entwaffnen. „Ich bin nicht krank, verdammt noch mal. Ihr sperrt mich hier ein, obwohl ich kerngesund bin.“ Als der Blick der Frau auf Direktor Faltlhauser fiel, füllten sich ihr bleiches Gesicht und ihre trüben Augen mit einem Hass, welcher den Direktor nahezu zittern ließ. „Du! Du bist schuld! Du steckst hinter diesem perversen Wahnsinn! Ihr steckt alle unter einer Decke, Verbrecher seid ihr!“ Sie machte einen Satz auf den Doktor zu, ihre dürren Hände fest um die Spritze gelegt. Zu des Doktors Glück stolperte sie und die Schwestern konnten sie überwältigen und ihr die Spritze mit dem eigentlich zu verabreichen gewesenen Beruhigungsmittel abnehmen. Valentin Faltlhauser stand die ganze Zeit über wie angewurzelt da. „Frau Gutensohn, beruhigen Sie sich!“ Der Doktor hatte sich aus seiner Schockstarre gelöst. „Sie sind aus gutem Grund hier, das wissen wir alle.“ In Zusammenarbeit schafften es die Pflegerinnen, die Frau wieder auf das Bett zu heben und sie zu fixieren. „Ich bin nicht krank,“ brüllte sie derweil. „Schwester, bringen Sie mir zwei Milligramm Skopolamin und die Akte der Patientin.“ Im Raum herrschte für einen kurzen Moment eine eigenartig panische Stille. „Jetzt verdammt noch mal“, brüllte der Direktor und eine der Frauen stürmte los.
Etwa fünfzehn Minuten später saß Valentin Faltlhauser wieder in seinem Büro und blätterte in der Krankenakte der jungen Frau. Sie hieß Rosina Gutensohn, war 32 Jahre alt und schon seit 1934 immer wieder in der Klinik in Behandlung gewesen. Er kannte sie nun schon fast zehn Jahre, in denen sie an Depressionen litt und sich immer wieder selbst verletzte. Sogar an ihre Eltern konnte er sich erinnern und wie sie am Tag ihrer ersten Einlieferung um eine liebevolle Behandlung baten. Die Familie kam aus Lindau und hatte einen Hof besessen, bevor sie ihn verkaufen und in eine kleine Wohnung auf die Insel ziehen mussten, soweit Faltlhauser ich erinnern konnte. Mit Lindau hatte er immer etwas Friedvolles verbunden. Als junger Arzt war er zwei oder drei Mal dort auf Lehrgängen gewesen. Rosina passte überhaupt nicht in sein Bild der idyllischen Stadt, in welcher er sich sogar überlegt hatte, ein Haus zu kaufen und eine Familie zu gründen. Er studierte ihre Krankenakte und las über zahlreiche erfolglose Elektroschock- und Flechttherapien in der Vergangenheit. Ganz am Ende des Dokuments befand sich ein roter Stempel. Valentin seufzte, die roten Stempel wurden in die Akten der Patienten gesetzt, welche man möglichst schnell loswerden wollte. Sie waren nichts weiter als ein Fehler in der menschlichen Reproduktion, Unheilbare mit keinerlei Nutzen für die Gesellschaft. Man nannte sie in Fachkreisen auch Bettleger, da sie meistens so geschwächt waren, dass sie ihre Betten kaum verließen oder so verrückt, dass man sie fixierte. Damit sich diese Kranken nicht vermehrten, ließ man sie normalerweise bei ihrer ersten Ankunft in der Klinik zwangssterilisieren, was bei Rosina jedoch nicht der Fall gewesen war. Ihr Vater hatte sich dagegengestellt, mit der Begründung, sie sei schon unfruchtbar. Faltlhauser dachte nach, irgendetwas faszinierte ihn an dieser Frau. Er wusste nicht, ob es ihr Überlebenswille war, welcher sie seit über zehn Jahren begleitete, oder, ob es ihre Schönheit war, die sie trotz der Unterernährung und der vielen Medikamente beibehalten hatte. Was auch immer es war, es ließ ihn nicht los.
Es war sehr früh am Morgen des 10. Januars 1944, als er sich dazu entschied, nach Rosina zu sehen. Das Beruhigungsmittel letzten Mittag hatte sie den Abend über friedlich schlafen lassen, wie er sich berichten ließ. Er hatte während seines Nachtdienstes viel nachgedacht über die Dinge, die gerade in seiner Klinik und in Deutschland passierten und er wollte mit Rosina reden, sie fragen, wie es ihr ging und wie sie geschlafen hatte. Dass es zu diesem Gespräch nie kommen würde, wusste Valentin Faltlhauser noch nicht, doch er spürte an diesem Morgen eine ungewöhnlich bittere Kälte durch die Gänge der psychiatrischen Klinik kriechen.
Rosina Gutensohn starb am 10. Januar 1944 im Alter von 32 Jahren. In ihrer verfälschten Krankenakte wurde eine Lungenentzündung als Todesursache notiert. Am Dienstag, dem 11. Januar wurde ihr Sarg in Lindau zugestellt. Heute erinnert ein wenig beachteter Stolperstein am Eingang der städtischen Musikschule an sie.
Susanne Parkova, Q12